(Am 13.11.2022 geschrieben und als Rohmanuskript sofort hochgeladen. Die Autorin behält sich vor, Änderungen und Korrekturen für die finale Version vorzunehmen, welche nach 15 einzelnen Episoden im Bookshop als PDF´s und Ebooks zu kaufen sein werden)
Episode 1: "Der harte Edwin und der geschlagene John"
(Verpasse nicht, die Einleitung und Episode 1 vorab zu lesen)
Während ich die Aufnahme von Susan anhöre, fällt mir wieder auf, wie klar und visuell sie mir ihren Lebensweg erzählen kann. Es ist für mich somit glücklicherweise einfach, die Geschichte, nach ihren Worten, in geschriebene Zeilen zu verpacken. Ihre Ausdrucksweise ist sehr gewählt und manchmal auch ungewöhnlich, was auf einen höheren Bildungsgrad schließen lässt.
Ich höre weiter Susans Erzählung zu und bringe es parallel zu Papier:
…“Viva war sehr dankbar, so viel Glück gehabt zu haben. Sie fühlte sich sofort in dem Haus des ehrgeizigen und überkorrekten Polizisten Edwin mit seiner fleißigen Frau Hilma wohl. Sie müssen wissen“, ergänzt Susan, „meine Mutter Hilma war eine sehr freundliche und gewinnende Frau. Sie konnte gut mit fremden Menschen Kontakt aufnehmen. Sie wusste auch genau, wie sie Menschen für sich gewinnen konnte. Vermutlich nicht ganz ohne Hintergedanken, hat sie meine Viva, in gewisser Weise, schnell in unsere Familie involviert. Beispielsweise brachte sie ihr manchmal Essen nach unten und auch sonst baute sie einen gut funktionierenden Sozialkontakt zu Viva auf, indem sie gelegentlich mit ihr zusammen Kaffee trank.
Mein Vater Edwin hingegen war kein Mann der großen Worte. Er war sehr introvertiert und hatte eine starke dominante Ausstrahlung. Sobald er einen Raum betrat, waren die Menschen schon ruhig, nur weil er anwesend war. Er war außerdem sehr strebsam und ehrgeizig, damit er im Beruf nach vorne kam. Dafür machte er aus eigenen Stücken ein Leben lang Schichtdienst und meldete sich freiwillig zu Aufgaben, die sonst keiner ausführen wollte: wie zum Beispiel die Teilnahme an Obduktionen. Das brachte alles zusätzliches Geld und Aussicht auf Beförderung ein. Seine Freizeit nutzte er für unzählige Handwerksarbeiten an seinem Haus. Er war darin sehr geschickt. Außerdem konnte er auch sehr gut zeichnen und so hatte er seinen Bauplan selbst entworfen. Das musste auch alles sein, denn die Beiden hatten sehr wenig Geld und bereits schwere Lebensgeschichten zu bewältigen:
Mein Vater stammte ursprünglich aus einem alteingesessenen Bäckereibetrieb. Er hatte noch einen jüngeren Bruder und eine ältere Schwester, da er aber der älteste Sohn war, sollte er einmal die Bäckerei übernehmen. Allerdings war sein Vater - also mein Opa - ein schrecklicher Mensch, der nicht nur seine krebskranke Frau brutal schlug, als sie schon im fortgeschrittenen Stadium ihres Brustkrebses war, sondern er verging sich auch an seinem Sohn sexuell - also an meinem Vater -, als dieser noch ein Kind war. Meine Oma starb, als mein Vater 13 Jahre alt war, und danach ging der Horror für ihn erst richtig los. Ich nehme an, dass das, was er erlebte, ihn zu dem gemacht hat, was er später wurde: hart, verschlossen und kämpfend.
Er begann mit 15 Jahren Boxunterricht zu nehmen. Vermutlich, damit er sich bald gegen seinen Vater wehren könnte. Als er 18 Jahre alt war, war er wieder mal zusammen mit seinem Vater in der Backstube, als dieser ihn abermals sexuell berührte. Das war sein Fehler, denn der kleine Edwin war kein kleiner Junge mehr. Er war nämlich mittlerweile ein erfolgreicher Boxer und Judokämpfer. Edwin hatte in dieser Nacht seinen Vater in der Backstube so verdroschen, dass dieser nur so durch die Bäckerei flog. Danach hat er seine Sachen gepackt und ist abgehauen. Er wollte nur weg und ging zum Militär an die östlichen Landesgrenzen, die zu dieser Zeit noch stark bewacht wurden. Daraufhin wurde er von seinem Vater enterbt. Außer einer kleinen Geldsumme - seinem Pflichtteil - bekam er nichts. Die Bäckerei und alle vorhandenen Immobilien gingen an seine Geschwister über.
Während seiner Dienstzeit lernte er meine Mutter Hilma in dem Ort kennen, in dem er stationiert war. Edwin und Hilma waren Kinder des Krieges. Geboren 1938 und 1939. Hilma kam aus einer bescheidenen Arbeiterfamilie, wobei ihr Vater ein aufbrausender Mann war. Allerdings kam ihre sehr ruhige Mutter ursprünglich aus einem großen Steinbruch, der aber leider an deren Bruder überging, welcher ihn beim Glücksspiel verspielt hatte. Hilma war zu Hause genauso unglücklich wie Edwin.
Sie wurde schnell mit meinem Bruder John schwanger und so heirateten Edwin und Hilma. 3 Jahre später kam meine Schwester Ingrid zur Welt. Mein Vater wollte noch so viel erreichen und so beschlossen sie zusammen weit weg zu gehen und ein neues Leben aufzubauen: nämlich irgendwo am Rande der Alpen. Edwin konnte wählen, ob er zur Bank geht oder zur Polizei. Er hatte für beides die Zusagen bereits. Da meine Mutter aber ein sehr sicherheitsliebender Mensch war, ging er ihr zuliebe zur Polizei.
Da waren sie also nun: Irgendwo am schönen Alpenrand, ihren Träumen vom freien und wohlhabenden Leben folgend. Die beiden Kinder, John und Ingrid, waren mittlerweile 11 und 8 Jahre alt, als sie das Haus beziehen konnten. Mein Bruder John war ein sehr ruhiger, schüchterner und eher ängstlicher, zart gebauter Junge. Meine Schwester Ingrid war das glatte Gegenteil: draufgängerisch, mutig, besitzergreifend und bestimmend.
Meine Mutter und auch John erzählten mir später, dass Ingrid immer ihren Bruder zum Unsinn anstiftete, wenn sie dann aber erwischt wurden, hat unser Vater nur John verprügelt - und das nicht zu knapp.“
Ich erinnere mich an gestern: An diesem Punkt hatte ich im Café um Pause gebeten. Das musste ich erstmal alles verkraften. So stoppte ich die Aufnahme und sah Susan traurig an. Ich fragte: „Moment, ihr Vater war ein missbrauchtes und vermutlich auch geschlagenes Kind und er hat später wiederum ihren Bruder verprügelt? Hat er noch jemand geschlagen oder gar auch mißbraucht?“ Susan antwortete ganz gefasst: „Ja, mein Vater konnte sehr brutal sein. Er war wie ein ruhender Vulkan - wehe, wenn er ausbrach. Dass er meinen Bruder immer zum Sündenbock machte, hatte wohl den Grund, dass dieser irgendwie seinem Opa - also Edwins Vater - ähnlich sah. Zumindest ist mir das auf Fotos mal aufgefallen. Es war aber auch so, dass mein Vater meine Mutter und auch mich mal schlug. Zum Glück habe ich aber nie gesehen, wie er sie schlug. Sie sagte es nur und wer ihn näher kannte, konnte das glauben. Ich denke, die Einzige, die nie von ihm geschlagen wurde, war Ingrid. Sie war irgendwie immer sein Liebling, auch wenn sie später glaubte, ich hätte ihr den Rang abgelaufen, was aber Blödsinn war, denn für mich stellte unser Vater meinen größten Feind dar. Ich muss aber sagen, er hat nie sexuellen Mißbrauch betrieben, so wie sein eigener Vater an ihm. Dieses Gefühl davon gab es nicht mal. Er war einfach nur extrem dominant, herrschend, kontrollierend, geizig und bestimmend. Wer nicht machte, was er sagte, hatte ein Problem. Dies allerdings zog sich dann aber auch ins eheliche Bett, so wie mir meine Mutter leider schon früh mitteilte. Sie hat wiederum ihre Wut vor allem an mir ausgelassen und dann gerne öfter mal Schläge an mich ausgeteilt - als ich noch ein Kleinkind war. Ihre Schläge gab es fast in wöchentlichen Intervallen. Mein Vater hat sich wenigstens nur auf 3-4 mal in meinem Leben beschränkt. Die Schläge waren allerdings verheerender, da er sehr stark war.
Das ist alles harter Tobak, aber ich war erleichtert, dass Susan wenigstens kein Missbrauchsopfer war, dennoch war ich sehr bedrückt über all diese Vorkommnisse. Sie sah es mir wohl an und sagte: „Sie müssen nicht bedrückt sein. Es ist Vergangenheit und mittlerweile weiss ich, dass es mehr Dramen um uns herum gibt, als wir oft ahnen. Sehen sie sich auf der Terrasse doch mal um.“ Ich blickte um mich und sah, dass mittlerweile einige Leute zum Nachmittagskaffee eingetroffen waren. Susan deutete auf einen Tisch in der Ecke. „Schauen sie, dieses freundlich wirkende ältere Paar da hinten. Es sieht so herrlich normal aus. Ich wette, da gibt es Geschichten, hinter diversen Vorhängen, die uns beide geschockt sein ließen. Aus meiner Sicht ist Alkohol ein Thema bei den Beiden. Das sehe ich schon äußerlich. Oder da drüben, die junge Familie mit den beiden Kindern. Sehen sie, wie die beiden Eltern gestresst sind und meinem Eindruck zur Folge nur alles aufrecht erhalten, weil sie den Schein für die Kinder und für die Gesellschaft wahren wollen.“
Ich sah hin und bemerkte, dass Susan wohl recht hat. „Sie haben eine sehr gute Beobachtungsgabe.“, sagte ich zu ihr anerkennend. Sie grinste schelmisch, tätschelte ihren Simba liebevoll und erwiderte: „Naja, man erbt ja so verschiedenes von seinen Eltern. Ich hatte lange gedacht, ich habe von denen nichts geerbt und wenn, dann nichts Gutes. Aber ich muss sagen, die gute Beobachtungsgabe zum Beispiel, die habe ich wohl von beiden geerbt. Mein Vater brauchte es beruflich und meine Mutter hätte sein Spürhund sein können.“
Ich musste über ihre trockene und witzige Art lachen. Es ist irgendwie erfrischend, wie sie über so ein dramatisches Thema, das sie selbst betraf, so humorvoll dennoch reden kann. Ich glaube, sie war froh, dass ich auf ihren gechillten Vibe aufsprang. Sie wollte wirklich kein Drama schreiben, aber ich sehe, das ist eben die Geschichte. Es ist IHRE Geschichte!
„War ihre Mutter also das Opfer ihres Vaters?“, wollte ich weiter wissen. Sie lächelte und sagte: „Hätten sie mich das gefragt, bevor ich 35 Jahre alt war, hätte ich es bejaht. Allerdings bin ich mit 35 Jahren nach Tibet gegangen und habe dort einige Jahre stark nachgedacht. Dabei ist mir aufgefallen, dass manche Menschen gerne Opfer sein wollen oder es lieben, einen harten Tango zu tanzen…Sie war ihm zweifelsohne unterlegen, denn jeder war ihm unterlegen, aber sie war nicht schwach!“ Ich war verblüfft: „In Tibet waren sie später? Oh meine Güte, ich kann gar nicht erwarten, bis sie in ihrer Erzählung an diesen Punkt kommen.“ Susan rührte in ihrem Kaffee grinsend und antwortete: „Geduld, meine Liebe, Geduld! Das ist etwas, das ich auch erst lernen musste.“ Ich lachte und lehnte mich zurück: „Na gut, eins zu null für sie. Aber sie wissen sicher, dass man als Zuhörer kaum erwarten kann, mehr von ihnen zu erfahren. Das ist ja alles super spannend und das obwohl ich vermutlich gerade mal nur ein Prozent von allem weiss.“ Sie schaut mich lächelnd an und sagt: „Eben, das ist mir bewusst und genau deswegen schreiben wir jetzt das Buch zusammen! Wollen sie, dass ich weiter erzähle?“
„Unbedingt!“, antwortete ich hastig und drückte wieder auf den Aufnahmeknopf. „Bitte, fahren sie fort, ich brenne vor Neugier!"
Fortsetzung: nächsten Sonntag. Verpasse nicht, auch die Einleitung und Episode 1 zu lesen. Beides ist bereits hier im Forum als Rohmanuskript gratis lesbar.
Kannst Du Dich gut in die Geschichte hineinversetzen?
Ja, ich finde, das ist sehr gut aufgebaut und geschildert.
Ich verstehe den Aufbau nicht.
Ich kann mich leider nicht hineindenken.
Wirklich sehr bildhaft geschrieben,zeitweise hat es einen doch sehr betroffen gemacht,aber man muß diese Details wohl kennen um Susans weiteren Lebensweg zu verstehen.Auf jeden Fall kann ich sagen das ich auf die weiteren Fortsetzungen sehr neugierig bin.